Helmut Schmidt und der 35. Mai

1932 macht sich der kleine Konrad, ein fantasieloser Schüler, mit seinem Onkel Ringelhuth und einem Zirkuspferd auf eine Reise in die Südsee.


Genau genommen am 35. Mai. Sie hätten den Teenager Helmut Schmidt mitnehmen sollen, zumindest bis in die automatische Stadt Elektropolis.

Braunes Pferd, das sich lächelnd auf vier roten Rollerblades fortbewegt
Zirkuspferd

 

Der junge Helmut hätte Autos gesehen, die durch die Straßen fahren, ohne dass noch ein Fahrer benötigt wird; er wäre Menschen begegnet, die ihre Telefone in den Taschen tragen, während sie auf einem fahrenden Bürgersteig zu ihrem Ziel transportiert werden; er hätte die aktuellen Nachrichten täglich zur gleichen Stunde am Himmel lesen können. Er wäre auch der alten Dame mit dem Filetdeckchen begegnet und vielleicht hätte er ihr stolz erklärt, dass er einmal Politiker werden möchte, wenn er groß ist.

Aber die alte Dame hätte ihn mit ihrer Antwort sicher erstaunt: „Mein liebes Kind, hier in Elektropolis arbeitet man nur zu seinem Vergnügen, oder um schlank zu bleiben, oder um wem ein Geschenk zu machen, oder um was zu lernen. Denn das, was wir zum Leben brauchen, wird samt und sonders maschinell hergestellt, und die Bewohner kriegen es gratis.“

Autos mit WLAN, die über eine Autobahn fahren. Links von der Autobahn sind Grünflächen mit Windrädern, hohe Gebäude mit WLAN
Elektropolis

 „Der 35. Mai“ von Erich Kästner wurde 1932 das erste Mal veröffentlicht und heute, gut 80 Jahre später, haben bereits Kinder ihre Telefone in den Taschen. Prototypen des selbst gesteuerten Autos wurden bereits vorgestellt und für aktuelle Nachrichten muss man nicht einmal den Kopf zum Himmel heben, man hat sie jederzeit abrufbereit im Telefon. Ein Visionär und ein herausragender Politiker teilen das Leid, dass sie oftmals zum eigentlichen Zeitpunkt des Denkens und Handelns mit Spott und Ablehnung konfrontiert werden, da die tatsächliche Leistung erst Jahrzehnte später erkennbar und entsprechend gewürdigt wird.

Ob ein Ausflug an der Seite von Konrad und Onkel Ringelhuth in die automatische Stadt den Pragmatiker Schmidt beeinflusst hätte, kann niemand wissen. Dass er sich jemals zu der heute amüsant wirkenden Äußerung, ein Mensch mit Visionen gehöre zum Arzt, hätte hinreißen lassen, das darf bezweifelt werden. Erich Kästner verstarb 1974, das Jahr, in dem Helmut Schmidt Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wurde. Ein Zufall. Natürlich. Aber auch eine Erwähnung wert.