Frau Abendtau

Frau Abendtau saß, wie jeden Abend allein, bei einem Glas Orangensaft mit Schuss und bat Frau Mosebach freundlich in ihr aufgeräumtes Wohnzimmer.


Frau Abendtau war keine Arzthelferin mehr, seit man sich entschlossen hatte, diesen traditionell weiblichen Beruf mit etwas mehr Selbstbewusstsein zu gestalten und ihm eine andere Bezeichnung gegeben hatte.

Frau Abendtau war eine medizinische Fachangestellte, die seit zwanzig Jahren in derselben Arztpraxis dieselben Tätigkeiten erledigte. Sie arbeitete für einen Arzt, den die ewig gleichen Krankheiten seiner Patienten unerträglich langweilten. Er nutzte jede Möglichkeit, um sich im Internet über die neuesten Möglichkeiten zur Behandlung von schwierigen Schäden an alten Autos zu informieren, für die er sich leidenschaftlich interessierte. Frau Abendtau war lange in der gewissen Hoffnung gewesen, er würde sich auch für sie interessieren. Und nun musste sie die Blüte ihres Lebens weiterhin allein erleben.

Eine Frau, die jeden Patienten stets mit einem Lächeln begrüßte, dabei gelegentlich dem ein oder anderen Herrn ihren Beziehungsstatus zur Krankenversichertenkarte legte. Sie besaß von Natur aus eine zarte Seele und aus Überzeugung sehr viel Güte für jeden Menschen, der ihr am Tag begegnete. Deswegen besaß sie ein medizinisches Gerät, mit dem sie in ihrer privaten Zeit jederzeit hier und da einen Blutdruck umsonst überprüfen konnte. Und sie trug stets in dunklem Rot geschminkte Lippen.

Nach dem Abendbrot und vor dem Schlafengehen nahm sie sich täglich außerdem Zeit für einen besonderen Besuch. Sie besuchte eine Homepage und suchte in ihrem Laptop nach offenen Armen für ihr blühendes Leben. In der Nacht blieb sie zu ihrem Bedauern nach diesen Besuchen weiter allein. Mit runden, wässrigen Augen lauschte sie nun den Worten von Frau Mosebach, nickte gelegentlich verständnisvoll und legte ihre warme Hand auf den Arm ihrer Nachbarin.

Frau Abendtau wusste, wie wichtig die zwischenmenschliche Berührung war. Sie sagte über Herrn Mai: „Wenn ich ihn durch das Praxisfenster auf der Straße gehen sehe, ist er immer ganz allein. Ich habe noch nie ein Gespräch mit ihm führen können, er war noch nie in unserer Praxis. Ich glaube, er hat niemanden, mit dem er sprechen kann.“

Sie konnte das gut nachempfinden, sie fügte mit einem Hauch von Schmerz in der Stimme hinzu: „Die Einsamkeit kann einem das Wort im Mund ersticken.“ Frau Mosebach legte bei diesen Worten ihre rechte Hand auf ihre linke Brust, sie fühlte, wie ihr helfendes Herz schneller schlug. Dem Nachbarn musste geholfen werden, da waren sich die beiden Frauen einig und beschlossen ohne zu zögern, ihn mit einem selbstgebackenen Kuchen in seiner Wohnung zu einem Kaffeestündchen zu überraschen. Schließlich tranken sie gemeinsam ein paar weitere Gläser Orangensaft mit Schuss, plauderten bis die Kirchturmuhr Mitternacht schlug und verabschiedeten sich schließlich mit einer herzlichen Umarmung und auf schwankenden Beinen.