Frau Capar

Frau Capar saß, wie jeden Morgen, an ihrer Kasse im kleinen Laden an der Ecke und schob die Produkte, die Frau Mosebach auf das Laufband legte, in aller Ruhe von rechts über den Scanner nach links.


Für Frau Capar war diese Ruhe außerordentlich wichtig. Zum einen war es ihr so möglich, ihr regelmäßig wechselndes Nageldesign zu schonen und zugleich ihren Kunden zu präsentieren. Zum anderen war es ihr wichtig, aus den Lebensmitteleinkäufen ihrer Kunden neue Rezeptideen zu entwickeln und sie beim Bezahlen außerdem zu empfehlen. Mit dem Tempo ihrer Armbewegungen war es ihr möglich, jedes Gespräch zu einem von ihr bestimmten zeitlichen Ende zu bringen.

Frau Capar war einst eine Ehefrau, die das Kochen und das Essen in Gesellschaft liebte. Leider war ihre Ehe kinderlos geblieben, sodass sie mit ihren Künsten ausschließlich ihren Ehemann beglücken konnte. Leider war Herr Capar wenige Monate zuvor mit einem letzten Atemzug im Morgengrauen verstorben. „Er starb an zu viel Fett“, behauptete der Arzt, der mit strengem Blick auf den Verstorbenen in seinem Bett den Todesschein ausfüllte, diesen auf die Kommode neben die kandierten Früchte knallte und auf ein Wort des Beileids verzichtete. Der Verlust des Ehemannes führte dazu, dass Frau Capar nicht mehr in ihrer eigenen Wohnung essen mochte.

Sie war nun eine Witwe, die sich gern in schwarze Kleidung hüllte. Bevor sie nach der Arbeit ihre Wohnung verließ, rückte sie sorgfältig einen kleinen schwarzen Hut auf ihrem Haar und einen kleinen Schleier vor ihrem Gesicht zurecht. Ohne ein einziges Wort des Selbstmitleids trug sie ihr Schicksal und die Veränderungen, die es mit sich brachte. Frau Capar machte sich nun täglich auf den Weg, um sich bei ihren Geschwistern und anderen Verwandten, die in ihrer Nähe wohnten, zum gemeinsamen Essen in Gesellschaft einzuladen. Sie aß aus Dankbarkeit viel und half dabei gern. Sie machte Vorschläge für bessere Gerichte, sie empfahl Regeln zur Erziehung der Kinder, sie zeigte auf, was in einer Ehe falsch verlief.

Nur an den Sonntagen kochte sie weiter, blieb dabei allein, schaute spannende Kriminalfilmserien und versorgte sich und ihren Kater zur Beruhigung der Nerven mit selbstgebackenem Kuchen. Sie nickte betroffen, als Frau Mosebach über Herrn Mai berichtete. Frau Capar sah Herrn Mai gelegentlich am Schaufenster des kleinen Ladens vorübergehen, sie sagte: „Der arme Mann wird immer dünner, ich glaube, er hat niemanden, der für ihn kocht.“ Bei diesen letzten Worten dachte sie an ihren verstorbenen Ehemann.

Frau Capar kamen Tränen in die Augen, sie wusste, wie wichtig eine gehaltvolle Ernährung war. Sie sagte: „Es kann doch nicht sein, dass in einem reichen Land ein Mensch zu wenig zu essen hat.“ Frau Mosebach nickte betroffen. Der Gedanke, dass Herr Mai unterernährt sein könnte, war ihr noch gar nicht gekommen. Sie blieb noch eine ganz Weile an der Kasse von Frau Capar stehen. Die beiden Frauen besprachen eine vorsichtige Aufbaukost für die gesamte Woche, die man für Herrn Mai vorsorglich einfrieren wollte. Sie einigten sich darauf, dass man den ersten Kaffeebesuch unbedingt bis zum Abendessen ausdehnen musste, das Frau Capar vorzubereiten versprach.