Dorli

Dorli fand dann auch noch eine Liebe. In der Schweiz hatte sie ja keine, also keinen Mann, und wohl auch nie einen in Aussicht gehabt.


Sie hatte nur eine Mutter, mit der sie Weihnachten verbrachte. Das erzählte sie uns eines Abends, als wir in unserer internationalen Wohngemeinschaft in Lunsar beisammensaßen und zu viel Palmwein getrunken hatten. Ich überlegte da so für mich, ob es wohl an ihrem breiten Froschmund lag, dass man gerne etwas Abstand hielt. Josh gab später auch zu, dass er immer diese Sorge hatte, es könne ihre Zunge hervorschnellen, um nach einer Fliege zu schnappen. Und vielleicht ging es den schweizer Männern ja ähnlich.

Jedenfalls war Dorli ein sehr engagierter Mensch, sie erklärte uns schon zu Beginn unseres sozialen und kulturellen Austauschjahres, dass sie nach Lunsar gekommen war, um so richtig professionell Leben zu retten und armen Menschen zu helfen und Gutes zu tun. Sie hatte aber auch eine medizinische Ausbildung und bereits einige Jahre in einem Kinderkrankenhaus in der Schweiz gearbeitet. Das heißt, sie war schon lange keine fast zwanzig mehr so wie Josh und Liam und ich.

Und in der zweiten Woche nach unserer gemeinsamen Ankunft in Lunsar kamen zwei große Hilfspakete aus ihrem Heimatdorf an, die hatte Dorli schon vor ihrer Abreise vorbereitet. Da waren lauter schöne Sachen für Kinder drin: Hefte und Stifte, Luftballons und Bälle. Kleidung war auch dabei. Sie hielt dann jedes einzelne Stück beim Auspacken hoch, zeigte es Josh und Liam und mir und erklärte uns, dass die Menschen in ihrem Heimatdorf sehr bescheidene Menschen waren und immer gerne etwas abgaben, um anderen zu helfen, also gute Menschen waren so wie eigentlich alle Menschen in der Schweiz.

Josh und Liam und ich saßen schweigend am Gemeinschaftstisch und tranken vorsichtig Wasser mit Salz und Zucker, während sie am Boden hockte und die Kindersachen sortierte. Wir waren einfach nur froh, dass wir keinen Durchfall mehr hatten.

In den Paketen war aber auch Kleidung für Erwachsene, ein blauer Rock zum Beispiel und eine passende Bluse und beides war aus reiner Seide. Dorli zögerte, als sie das feststellte, und erklärte uns: „So was Teures konnte ich mir in der Schweiz nie leisten.“ Den Rock und die Bluse trug sie dann täglich nach der Arbeit, wenn sie auf dem Krankenhausgelände spazieren ging oder wenn sie zu Mateo ging, um ihn um ein Lebensmittel zu bitten. Manchmal auch, um ihm Schokolade aus ihrer Heimat zu schenken.

Mateo war ein Arzt aus Spanien, der zwei Türen weiter im Eingeschossreihenhaus wohnte und mich mit seiner Nickelbrille an John Lennon erinnerte. Aber Dorli schien er zu gefallen, weil sie auch immer zu seiner Tür sah, wenn ich mit ihr gemeinsam zum Krankenhaus ging. Sie lud ihn auch zum Essen ein, aber er hatte nie Zeit oder es kam ihm in letzter Minute etwas dazwischen. Das ging so einige Wochen, und dann lag sie plötzlich eines Abends in unserem Gemeinschaftsraum auf dem Sofa, starrte nur noch an die Decke und sah blass aus, als würde sie krank werden.

Das war so ein Moment, der Josh und Liam und mich mit Sorge, sogar mit einer gewissen Panik erfüllte, also der Gedanke, dass Dorli ernsthaft krank werden könnte, weil sie doch die Einzige von uns war, die freiwillig kochte und putzte. Ich bin dann sofort los, um Mateo zu holen, weil Mateo ja Arzt war und nur die zwei Türen weiter wohnte. Und ich sah eine echte Chance für Dorli, ihn so näher kennenzulernen. Allerdings war es schon sehr spät und ich musste ganz schön laut und lange an seine Tür hämmern, bis sich im Innern endlich etwas regte, und dann wurde mir so richtig mulmig zumute. Das lag aber nicht an der späten Uhrzeit, sondern daran, dass Rosetta die Tür öffnete.

Rosetta war eine von den einheimischen Krankenschwestern im Krankenhaus und half Mateo beim Übersetzen, wenn er die einheimischen Patienten versorgte. Sie war seine persönliche Assistentin am Tag, von nachts hatte ich ja keine Ahnung! Und als sie da so vor mir stand und kicherte und nur ein Handtuch vor ihrem Körper hielt, da war ich spontan sprachlos. Nur, für einen Rückzug war es für mich zu spät! Mateo tauchte bereits hinter ihr auf und wollte von mir wissen, was ich von ihm wollte. Er trug die Nickelbrille auf seiner langen Nase und ansonsten eine Boxershorts, aber mehr eben auch nicht. Rosetta kicherte noch immer und ich war viel zu jung und unerfahren für diplomatische Gespräche, deswegen rief ich ihm zu: „Dorli, Malaria, Tod!“

Josh behauptete später, ich hätte die Worte so laut gerufen, dass man sie bis in unser Haus hörte und Liam sich deswegen beim Trinken verschluckte. Mateo sah mich streng an und wollte noch viel mehr wissen, was genau mit Dorli los war und so, aber ich zog nur hilflos meine Schultern hoch und fand das ausreichend, schließlich hatte ich keine medizinische Ausbildung. Er schlüpfte dann grummelnd in seine Gummiflipflops und folgte mir schlurfend und immer noch nur in Shorts in unsere Wohngemeinschaft. Ich hatte immer noch ein mulmiges Gefühl, als wir unser Haus betraten, und sah vorsichtig zu Dorli, aber Dorli begann zu lächeln, und zwar war genau in dem Moment, als sie Mateo erblickte, und da dachte ich: Auweia!

Mateo setzte sich zu Dorli auf die Sofakante und runzelte seine Stirn, so richtig wie ein aufmerksamer Arzt eben. Dann legte er seine rechte Hand auf ihren Bauch und sie schloss die Augen und er drückte ein wenig an verschieden Stellen. Nach ungefähr drei Minuten stand er wieder auf, empfahl ihr mit ernstem Blick den nächsten Morgen abzuwarten, und ging in sein Haus zurück. Dorli blieb lächelnd auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum liegen. Sie lächelte sogar noch am nächsten Morgen oder vielleicht auch schon wieder und ich überlegte schwer, wie und wann und wo ich ihr von Rosetta und Mateo erzählen konnte. Dorli war immerhin eine Frau im fortgeschrittenen Alter, deswegen wollte ich es ihr schonend, so ganz nebenbei, auf dem Weg zum Krankenhaus erzählen, weil es ja nicht offiziell war, dass sich Dorli für Mateo interessierte, und ich eigentlich auch nur eine Vermutung hatte, aber auf die konnte ich mich in solchen Angelegenheiten meistens verlassen.

Es waren sehr komplizierte Gedanken, mit denen ich mich Dorli zuliebe noch immer beschäftigte, als wir schon längst im Schwesternzimmer angekommen waren, wo Ordensschwester Valeria die Visite vorbereitete. Und noch bevor ich zu einer Lösung gekommen war, erschien Mateo im Zimmer und hielt Rosetta an der Hand, die verlegen auf den Boden sah. Dorli wurde blass und lächelte nicht mehr und sagte hastig zu Mateo: „Mir geht es wieder gut.“ Mateo nickte und erwiderte: „Manche Krankheit erledigt sich zum Glück von alleine.“ Ich überlegte noch kurz, wie er das wohl gemeint haben konnte, aber es ging alles so schnell, denn er war schon wieder weg, weil er in den OP musste und Dorli eilte aus dem Zimmer, weil sie sich um die kranken Kinder kümmern wollte. Ich musste dann Schwester Valeria bei der Visite begleiten und hatte einfach keine Zeit mehr für komplizierte Gedanken.

 

Weibliche Comicfigur mit Schleife im Haar sitzt vor roten Puzzlestücken, die zusammengesetzte in einer Gedankenblase ein großes, rotes Herz darstellen.
Dorli

 

Von dem Tag an jedenfalls trug Dorli ihren Seidenrock nur noch an den Sonntagen, wenn sie in die Kirche ging, weil sie da eine Liebe gefunden hatte, und das war die Liebe zu ihrem Gott. Jedenfalls nannte sie das Liebe, wenn sie jeden Abend vor ihrem Bett kniete, um ein Gebet zu sprechen. Ich kannte mich da nicht so aus, aber ich hatte trotzdem meine Zweifel, also, ob das Liebe war, denn eines war sicher, ihr Lächeln, das war für lange Zeit verschwunden.