Schwester Valeria

Valeria hatte ihre Liebe geheiratet. In gewisser Weise zumindest. Sie war eine Ordensschwester aus Mexiko und lebte seit einigen Jahren in dem kleinen Krankenhaus in Lunsar.


Als einzige Ordensschwester dort wohnte sie ganz allein in ihrem Schwesternhaus, also direkt neben dem Haus des Bruderordens, von dem die gesamte Krankenhausanlage geleitet wurde. Valeria war für die Organisation der Station mit den sechs Krankenzimmern verantwortlich und immer in Bewegung.

Frauengesicht ohne Augen mit einem roten Mund und einem Diadem in schwarzem, hochgesteckten Haar.
Valeria

 

 

 

Sie war Mitte dreißig, dünn und bleich im Gesicht und mit ihren großen, dunklen Augen erinnerte sie mich an Audrey Hepburn in „Frühstück bei Tiffany“. Valeria war hübsch, so wie „Holly Golightly“, und ich war wirklich beeindruckt, also davon, dass sie eine Nonne war. Ich meine, ich war sicher, dass es viele Männer gab, die sie gern geheiratet hätten.

 


 

Aber, Valeria war mit ihrem Gott verheiratet. Jedenfalls erklärte sie das so, als ich mal ganz beiläufig nachfragte, ob sie nie über eine Ehe oder eine Beziehung nachgedacht hätte. Sie lächelte, zeigte mir den Ordensring an ihrer rechten Hand, den sie Ehering nannte, und den drehte sie hin und her. Das machte sie übrigens öfter, so an ihrem Ring drehen, und dabei zwinkerte sie meistens mit ihren Augen.

Manchmal keck, aber häufig nervös, als wäre in ihrer Ehe etwas nicht in Ordnung. Wie an dem Tag zum Beispiel, als ich auf der Bank vor dem Schwesternzimmer saß. Wir warteten schweigend auf Ismael, der täglich die Mittagssuppe für die Kranken brachte. Ich sagte einfach so in die Stille hinein: „Jetzt bin ich schon drei Monate hier, die Zeit vergeht total schnell.“ Valeria stand vor mir, starrte vor sich hin und erwiderte: „Ich möchte auch gern zurück nach Hause.“ Ich schwieg verblüfft, weil ich das so gar nicht gemeint hatte, und sie fuhr fort: „Es ist mir sehr schwergefallen, meine Heimat zu verlassen. Ich würde gerne etwas für die Menschen dort tun.“ Sie sah mich an: „In Mexiko gibt es viel Not und Elend.“

Dann mach das doch einfach“, schlug ich spontan vor. Valeria schwieg, starrte in die Richtung, aus der wir Ismael erwarteten, und seufzte: „Es ist nicht einfach!“  Sie sah mich an: „Meine Oberin sagt, dass meine Aufgaben hier sind, in diesem Krankenhaus.“ Sie sah wieder weg und fügte hinzu:  „Das ist so Gottes Wille.“Aber“, widersprach ich, „man kann dich doch nicht zwingen hierzubleiben, wenn du das gar nicht möchtest.“

Und da zuckten ihre Lider und sie erklärte mir: „Einer Oberin muss eine Ordensschwester wie ich gehorsam sein, sie trifft die Entscheidungen.“ Ich wollte etwas erwidern, aber sie fuhr fort: „Meine Oberin ist wichtiger als ich, verstehst du?“ Ich schüttelte den Kopf und wurde unruhig, weil ich das nicht in Ordnung fand, aber sie erklärte geduldig weiter: „Meine Oberin steht über mir“, sie zeigte mit einem Finger nach oben, in den Himmel, „sie ist näher zu Gott!“

Aber ich dachte“, erwiderte ich jetzt laut, „vor einem Gott sind alle Menschen gleich!“ Da sagte Valeria dann nichts mehr. Sie ließ mich auf der Bank sitzen und ging Ismael entgegen, der endlich das Essen für die Kranken brachte. Nachdem die Mittagssuppe verteilt war, eilte Valeria sofort in ihr Schwesternhaus. Das machte sie jeden Tag und immer zur selben Zeit, also in ihr Schwesternhaus eilen, um Mittag zu essen. Ich war nur nicht sicher, ob sie wirklich etwas aß, weil sie doch so dünn war.

Vermutlich, dachte ich später mal, brauchte sie täglich diese Pause, weil sie das graue Elend hatte, wie „Holly Golightly“ es nannte, wenn sie traurig war. Valeria sprach dann nicht mehr über ihre Heimat, bis zu dem Tag, an dem sie von ihrer Oberin die Erlaubnis bekam, nach Hause zu fahren, um Urlaub zu machen. Sie lächelte, als sie mir das erzählte, und ich freute mich für sie und sagte: „Vielleicht ergibt sich ja doch noch eine Möglichkeit für dich, in Mexiko zu bleiben.“

Da allerdings wurde sie sehr ernst. Sie drehte ihren Ring und ich wusste, jetzt geht es um ihre Ehe. „In meinem Orden“, erklärte sie mir langsam, „bekomme ich jeden Tag Essen und Trinken. Wenn ich gegen den Willen meiner Oberin in Mexiko leben will, muss ich aus dem Orden austreten. Ich habe dann nichts zu essen und nichts zu trinken. Dann habe ich in meiner Heimat gar nichts!“

Als ich an dem Abend in unserer internationalen Wohngemeinschaft am Gemeinschaftstisch saß, da hatte ich selbst das graue Elend und aß ein Brot mit Orangenmarmelade. Die Orangenmarmelade war irgendwie in unser Haus gelangt und keiner wusste, wer sie eigentlich mitgebracht hatte, oder ob sie schon vor uns im Haus gewesen war. Jedenfalls schmeckte sie abscheulich und niemand wollte sie geschenkt haben und schon gar nicht selbst essen und deswegen wurde das Marmeladenglas in unserer Küche mal hierhin und mal dahin gestellt. Es traute sich auch keiner von uns, sie einfach wegzuwerfen, es gab ja keine Müllabfuhr oder so, nur den langen, breiten Graben hinter der Krankenhausanlage, wo alle ihren Müll reinschmissen. Und deswegen hoffte vermutlich jeder von uns insgeheim, irgendjemand würde diese fürchterliche Marmelade schon aufessen, so aus rein moralischen Gründen zum Beispiel.

Und das nahm ich mir an diesem Abend vor. Jeden Tag ein Brot mit Orangenmarmelade, weil man nichts wegwerfen darf, wenn Menschen hungern. Ernsthaft! Nur, dann kam Bruder Juan. Er war einfach eines Mittags da. Juan gehörte zu dem spanischen Bruderorden, der das Krankenhaus leitete, er sollte seine Brüder bei ihrer Arbeit unterstützen. Was genau seine Aufgabe war, das war nicht so eindeutig, er half mal in der Verwaltung, mal in der kleinen Apotheke. Er hatte jedenfalls keine medizinische Ausbildung. Aber, Juan konnte sehr gut organisieren.

Er organisierte sich seine Arbeiten so, dass er immer zur selben Zeit Mittagspause machte wie Valeria. Und das machte er jeden Tag, von seinem ersten offiziellen Arbeitstag an. Das heißt, er kam zu unserem Schwesternzimmer, holte sie ab und dann eilten die beiden zu dem Haus von Valeria. Und da waren sie dann zu zweit. Also die beiden ganz allein. Was ja deswegen ungewöhnlich war, weil die anderen Brüder ihre Zeit in ihrem Bruderhaus verbrachten und dort gemeinsam aßen und beteten und so. Ich fand das in Ordnung, weil sie nicht mehr so blass aussah. Ich meine, für mich war das Grund genug, die Marmelade vorerst zurück in den Schrank zustellen. Ich holte sie danach auch nur noch ein einziges Mal heraus. Das war dann, als Pablo kam.

Pablo gehörte nicht zum Bruderorden, er war ein Freund von Mateo, dem spanischen Arzt, und kam nur nach Lunsar, um Mateo zu besuchen. Aber er hatte von dem Leben in Lunsar überhaupt keine Ahnung und deswegen klopfte ich ganz früh am Morgen nach seiner Ankunft an seine Tür. Er öffnete sehr verschlafen, wie ich gehofft hatte, und ich sagte sofort zu ihm: „Ich habe ein Frühstück für dich als Willkommensgruß“, drückte ihm ein Weißbrotbrötchen in die Hand und dazu die fürchterliche Orangenmarmelade. Pablo lächelte müde und sagte: „Das ist aber nett.“ Und ich erklärte: „Ja, so sind wir hier! Wir teilen gern und wir schmeißen nie etwas weg!“

Und dann ging ich zufrieden weiter ins Krankenhaus zu Schwester Valeria, die immer noch mit ihrem Gott verheiratet war, aber nicht mehr so oft an ihrem Ring drehte, seit sie ihre Mittagspause mit Bruder Juan verbrachte.