Liam

Liam hatte keine Liebe in Kanada zurückgelassen. Aber er hatte eine Vorstellung davon, wie sein Leben irgendwann einmal mit einer Ehefrau aussehen würde.


Davon sprach er an einem unserer ersten Abende, als wir mit Dorli und Josh in unserer internationalen Wohngemeinschaft an unserem Gemeinschaftstisch saßen. Liam rückte sich seine Brille zurecht, strich sich über seinen Seitenscheitel und erzählte stolz, dass er eines Tages ein Haus in Kanada besitzen und Kinder haben würde, zwei vermutlich. Er würde dann der Mann im Haus sein und das Dach reparieren und die Regenrinne sauber machen und seine Frau würde ein Band im Haar tragen mit einer Schleife daran. Liam nahm gelegentlich ein paar Züge von Josh Spezialzigaretten, um abzuschalten und sich zu entspannen, aber als er so von seiner Zukunft und Familie sprach, da war er klar im Kopf, das meinte er ernst.

Lehrer mit Brille steht vor einer Tafel, hält einen Globus in der Hand. Vor ihm stehen drei Schulkinder, alle lächeln.
Liam

Seine Augen glänzten, während er so erzählte, und sein Gesicht erst recht. Allerdings saßen wir bei Kerzenlicht, weil wir keinen Strom mehr hatten, der Ventilator stand still und es war verdammt schwül. Jedenfalls konnte ich mir Liam nicht auf einer Leiter an einer Hauswand vorstellen und schon gar nicht auf einem Dach. Eher vor einer Schulklasse als freundlichen Lehrer mit ordentlich gekämmtem Haar, in einem weißen, gebügelten Hemd und einem Pullover ohne Ärmel. Und da würde er seinen Schülern vermutlich die Erde erklären. Also von Bergen, Ozeanen und Kontinenten berichten und den verschiedenen Nationen.

Von Kanada und den USA zum Beispiel. „Kanada ist kein Bundesstaat der USA!“, erklärte Liam uns, obwohl Dorli, Josh und ich das ja schon wussten. Nur, die Bevölkerung um uns herum war nie zur Schule gegangen oder hatte lange vor einem möglichen Erdkundeunterricht die Schule schon wieder verlassen. Und deswegen war Liam eben für alle ein Amerikaner, aber kein Kanadier, nicht einmal ein Nordamerikaner, sondern eher ein US-Amerikaner, so wie Josh. Liam wollte aber nicht einfach Amerikaner, sondern zuallererst Kanadier sein und auch so erkannt werden. Und das war seine erste große Sorge: Er wusste nicht, wie er das hinbekommen sollte.

Nach den ersten Wochen unseres Aufenthaltes ließ er deswegen seinen Kopf hängen, dann auch die Schultern und mit hängendem Kopf und hängenden Schultern schlurfte er tagelang in seinen Gummiflipflops durch unser Eingeschossreihenhaus und über das ganze Krankenhausgelände. Oder er verschwand stundenlang in seinem Zimmer, dann hörten Dorli und ich es poltern oder manchmal einen tiefen Seufzer. Aber einmal eine Art: "Heijeihuu!" Das war der Moment, als er sein Ahornblatt gefunden hatte. Das heißt, Liam behauptete, dass ihm der Button mit dem Ahornblatt ganz zufällig aus seinen Sachen entgegengefallen und an seinem ausgeleierten T-Shirt hängengeblieben war. Jedenfalls ging er von dem Tag an wieder aufrecht, weil er wollte, dass der Anstecker gerade hing und das Ahornblatt gesehen wurde. Er war auch immer bereit, jedem, der es sich ansah, zu erklären, dass es ein ganz wichtiges Symbol für Kanada war und dass Kanada eine richtige, eigenständige Nation war und auf keinen Fall zu den USA gehörte. Nur, das interessierte niemanden, weil Liam ja trotzdem Amerikaner war, so wie Josh eben.

Und irgendwann bekam Liam dann diesen traurigen Blick, als wäre das für einen Kanadier eine Frage der Ehre oder so. Dorli war schließlich ziemlich besorgt, also dass Liam möglicherweise die ganzen verbleibenden Monate niedergeschlagen mit seinen Gummifliflops durch die Gegend schlürfen würde, weil sie das Geräusch nicht mochte. Ich hatte auch keine Idee, wie man einen Kanadier als Kanadier erkennbar machen konnte. Aber dann erledigte sich Dorlis Sorge ganz spontan und unerwartet, quasi von allein, als Long John eines Abends zu Besuch war und mit uns unter dem Ventilator saß.

Es war eigentlich ein ganz normaler Abend, Dorli beschwerte sich auf Schweizerdeutsch, dass sie schon wieder das Badezimmer sauber gemacht hatte, obwohl sie gar nicht dran gewesen war. Ich überlegte laut auf Hochdeutsch, wo ich meinen Walkman hingelegt hatte. Josh war irgendwo mit seiner Feldforscherweste in der Natur unterwegs, Liam ließ schweigend den Kopf hängen und Long John erzählte etwas auf Krio, obwohl außer ihm niemand Krio sprach und erst recht nicht verstand. Im Grunde eine ganz gewöhnliche Situation in einer internationalen Wohngemeinschaft.

Dann schoss Liam völlig unerwartet von seinem Stuhl hoch, starrte uns an, wischte sich mit seiner Hand über die Stirn und sah aus wie jemand, dem plötzlich klar geworden war, dass er etwas außergewöhnlich Wichtiges zu Hause vergessen hatte. „Josh und ich“, rief er aus, „wir sind die Einzigen, die nur Englisch sprechen!“ Wir starrten ihn zurück an, er nickte aufgeregt zu seinen Worten und erklärte weiter: „Josh und ich sind die Einzigen, die keine zweite Sprache sprechen!“ Und diese Erkenntnis muss für ihn dann so was wie ein ganz spiritueller Moment gewesen sein.

Gleich in der Nacht darauf, da hatte er nämlich seinen Traum! Liam kam morgens aus seinem Zimmer, als Dorli und ich am Frühstücken waren, und sagte zu uns so etwas wie: „Dobrohoranku“. Wir sagten beide nichts, er setzte sich zu uns und erklärte, dass er uns auf Ukrainisch begrüßt hatte. Liam war tatsächlich über Nacht ein osteuropäischer Kanadier geworden, weil er sich daran erinnert hatte, dass seine Familie ursprünglich aus der Ukraine stammte und irgendwann nach Kanada ausgewandert war, zumindest seine Großeltern. Also auf jeden Fall seine Großmutter mütterlicherseits. Da war er sicher, denn als er noch ein Kind gewesen war, hatte sie ihm Ukrainisch beigebracht, ein paar Wörter zumindest. Und das war ihm über Nacht eingefallen, weil er von seiner Großmutter geträumt hatte. Vielleicht war sie ihm auch nachts erschienen, da tat er etwas geheimnisvoll.

Nur, mehr als diese Begrüßung auf Ukrainisch fiel ihm dann doch nicht mehr ein, vielleicht auch, weil ihm seine Großmutter mütterlicherseits kein weiteres Mal im Traum erschien. Jedenfalls blieb es dabei, dass er uns morgens mit „Dobrohoranku“ begrüßte. Denn wenn er abends aus dem Krankenhaus zurückkam, dann fluchte er wie immer auf Englisch: „Shit“ oder „damn shit“, je nachdem, wie viel er am Tag zu tun gehabt hatte. Liams Arbeitsplatz im Krankenhaus war im Labor, dort half er den Mitarbeitern dabei, Ursachen von Krankheiten zu identifizieren und dazu saß er an einem Mikroskop und sah sich Stuhlproben von Patienten an. Und weil er gar keine Ahnung von mikroskopischer Betrachtung von Stuhlproben hatte, musste er das von morgens bis abends üben und sofort Bescheid geben, wenn er das Gefühl hatte, dass sich unter dem Mikroskop in einer Stuhlprobe etwas bewegte.

Am Anfang half ihm Long John dabei, weil er schon einige Jahre Mitarbeiter im Krankenhaus war. Er erklärte Liam das Mikroskop und was man sonst noch so im Labor machen konnte. Zähne ziehen zum Beispiel. In das Krankenhaus in Lunsar kamen viele Menschen, die Zahnschmerzen hatten, nur dafür gab es keinen Arzt und schon gar kein Sprechzimmer, dafür gab es das Labor. Und im Labor gab es die Möglichkeit, sich von geübten Mitarbeitern bei Bedarf einen Zahn ziehen zu lassen. Von Long John zum Beispiel. Und das wurde dann Liams zweite große Sorge. Also, dass Long John wegen eines Zahns, den er falsch gezogen hatte, entlassen wurde.

Das war von heute auf morgen und für beide völlig überraschend, weil es auch gar keine Begründung gab, also keine, die Long John und Liam zu akzeptieren bereit waren. „Sie haben ihn entlassen, weil er einen falschen Zahn gezogen haben soll!“ Das erzählte Liam uns aufgeregt, als wir am Tag der Entlassung zu einer Notfallbesprechung an unserem Gemeinschaftstisch zusammenkamen. Wobei, Liam saß nicht, er ging aufrecht im Raum auf und ab, während er weitersprach. „Es kommen doch ständig solche Patienten ins Labor, versteht ihr? Die immer noch Schmerzen haben, weil der falsche Zahn gezogen wurde. Long John ist nicht der Einzige, der Zähne falsch zieht!“ Liam war so aufgeregt und verärgert, dass er aufrecht und mit festem Schritt zur Krankenhausleitung ging, um sich dafür einzusetzen, dass Long John seine Arbeit im Labor zurückbekam, aber da war nichts zu machen. Dorli vermutete, dass es noch einen anderen Grund gegeben haben musste, aber sie bekam auch nichts raus, obwohl sie mit einigen Brüdern ziemlich gut zurecht kam, seit sie in Gott ihre Liebe gefunden hatte.

Jedenfalls von dem Tag an musste Liam mit seinen Stuhlproben im Labor ganz allein klarkommen. Das heißt, wenn er eine Frage hatte, dann musste er zum Fenster schlurfen. Es war nämlich so, nachdem Long John rausgeschmissen worden war, da hatte er nichts mehr zu tun, weil es in Lunsar keine andere Arbeit gab, als die im Eingeschosskrankenhaus. Und weil er also nichts zu tun hatte, kam er jeden Tag weiter aufs Krankenhausgelände und stellte sich an das Fenster vom Labor, um Liam zu helfen, wenn er Probleme mit den Stuhlproben hatte. Ja und wenn Liam Feierabend hatte, dann begleitete Long John ihn über das Krankenhausgelände zurück zu unserem Haus oder die beiden gingen noch in eine Lehmhütte Palmwein trinken. Jedenfalls verbrachten sie mehr Zeit zusammen, als vor der Entlassung von Long John und dabei lernte Liam dann seine Sprache.

„Liam spricht Krio besser als jeder andere Ausländer, der hier jemals im Krankenhaus gearbeitet hat!“ Das erklärte Long John uns an einem unserer letzten Abende unseres internationalen Austauschjahres, als wir in unserem Eingeschossreihenhaus unter dem Ventilator saßen. Liam sah da mächtig stolz au, ich meine, er war auch ein osteuropäischen Kanadier, der eine westafrikanische Sprache beherrschte und auf Ukrainisch grüßen konnte! Zumindest morgens. Jedenfalls lächelte er wieder wie ein freundlicher Lehrer und begann von Kanada zu erzählen, von der Natur dort und von den Jahreszeiten und so.

Wir hörten ihm schweigend zu und Long John nickte gelegentlich und sagte schließlich: „Ich möchte dich gerne irgendwann einmal besuchen.“ „Ja, aber nicht im Winter!“, warnte Liam, „da wird es bei uns so kalt, das kannst du dir nicht vorstellen, da friert sogar das Wasser in der Luft und es fällt weißes Eis vom Himmel!“ Und da streckte Long John lässig seine Beine aus und erwiderte: „Kein Problem! Ich interessiere mich für eure Jahreszeiten und für euren Schnee, ich komme dich besuchen, weil es schon immer ein großer Traum von mir war, in die USA zu reisen.“ Da seufzte Liam, sagte aber nichts, weil Long John sein Freund geworden war, und das ist ja auch eine Form von Liebe.